Freitag, 5. August 2011

Iwwer Feld

Vor einiger Zeit hat mich ein beunruhigender Gedanke gepackt. Beim Nachdenken über den Kinderalltag unserer Tochter, über die eigene Kindheit und über das, was ich durch Bilder und Erzählen von der Kindheit meiner Eltern weiß, schoss mir in den Sinn: Die Kindheit meiner Mutter hatte mit dem Mittelalter mehr gemein als mit der Kindheit ihrer Enkelin, meiner Tochter. 
Diese vermeintlich fixe Idee bleib auch nach einigem Nachdenken bestehen. Noch zu meiner Kinderzeit in den sechziger und siebziger Jahren waren die Häuser des Dorfes belebt, es wurde ums Haus herum gewirtschaftet, es gab (gerade noch) eine Dorfschule, es gab alles, was man zum Leben dringend brauchte, im Dorf. Schickte der Lehrer Warburg ein Kind nach Hause- etwa, weil die Fingernägel nicht akkurat sauber waren- so war da auch jemand zu Hause, der dem Kind die Nägel schrubben (und womöglich auch ein wenig "iwwer deer raulisch Schulleehrer" maulen) konnte. Häuser waren in der Regel nicht abgeschlossen, Leute waren da oder jemand wusste, wo man sie finden konnte: Im Gaade. Im Stick. In de Rummele. Beim Bägger. Ei grad beis Leni, bei Sarller'sch, on Mauer'sch. Beim Maije.
Und so gehörte es für mich als Kind auch zu den unerhörten Ereignissen, wenn jemand nicht da war, weil er oder sie "iwwer Feld is". Iwwer Feld, das hieß zumeist Kirn oder Meisenheim, in selteneren Fällen Sobernheim. Iwwer Feld fahre, das bedurfte einiger Vorbereitung. "Ich wollt' noch iwwer Feld fahre, soll ich der ebbes metbringe?" Wenn ich als Kind hörte, das jemand "iwwer Feld is", dann hatte ich die Wiesen und Felder Richtung Lochmühle und Richtung Limbacher Wald vor meinem inneren Auge. (Und das habe ich auch heute noch.) Das entsprach ja nun auch dem Weg, den man nach Meisenheim oder Kirn, nach Sobernheim, ja nach Bad Kreuznach oder Idar-Oberstein einzuschlagen hatte. Iwwer Feld, das hieß, den Radius des Dorflebens zu verlassen, um etwas Wichtiges zu besorgen. Verwandtenbesuche, Arztbesuche, Kulturelles, Lohnarbeit zählte nicht dazu: Iwwer Feld, das  waren Besorgungen, das  geschah zu Öffnungszeiten der Läden. Iwwer Feld, das wurde auch mitgeteilt und geplant, denn nur wenige Frauen hatten einen Führerschein.
Seitdem man für alles und jedes iwwer Feld muss- und auch kann, wenn es sein soll, fünfmal am Tag- seitdem gehört der Ausdruck zu den blass gewordenen, fast ausgestorbenen Begriffen. 

Läden gibt es keine mehr in Hundsbach, wie in so vielen anderen Dörfern, in denen das Leben einmal autark war.
Ein Mensch, das einmal nach Lust "buscheere gehn" wollte, käme heute ungesehen durch's Dorf. Undenkbar zu meiner Kindheit.
Ganz zu schweigen von der Kindheit meiner Mutter.

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